Eine Stadt namens Hardwar – In Heiligen Höhen

India

gangesbook

Hier eine Leseprobe meines neusten Buches, In Heiligen Höhen, Unterwegs zur Wiege des Ganges, im Wiesenburg Verlag erschienen.

Eine Leserin der Diskussionsgruppe Indien Erlesen in der GEO-Reisecommunity hat das Buch kurz besprochen.

“Sehr gut geschrieben ist auch “In heiligen Höhen – Unterwegs zur Wiege des Ganges” von Tom Vater. Ich finde das Buch wahrscheinlich auch deshalb so wunderschön, weil wir uns auch wünschen, einmal zur Gangesquelle zu gelangen. Das Buch konnte ich kaum aus der Hand legen, musste auch hier oft lachen, sehr trockener Humor der Herr Vater, einiges gibt es zu erfahren über Indien. Wer sich für den Garhwal interessiert, den könnte das Buch bereichern.”

Das folgende Kapitel dient dem Buch als Einleitung und beschreibt eine wenig erleuchtende aber immerhin unterhaltsame und außergewöhnliche Erfahrung, die ich in Hardwar gemacht habe. Indien ist und bleibt ein Land der Überraschungen, der Schicksalsschläge und Erlösungen.

Hardwar oder auch Haridwar ist eine Stadt in Nordindien, die sich am Gangesufer hinzieht. Mit einer Bevölkerung 300.000 ist Hardwar einer der heiligsten Orte Indiens, denn hier ergießt sich der Ganges – aus dem Himalaya kommend – in die Ebene und fließt mehr als 2000 Kilometer Richtung Osten in das Sunderbahns-Delta in der Bucht von Bengalen.

Glaubt man den Jahrtausende alten hinduistischen Mythen, so kämpften Götter und Dämonen einst um einen Kumbh, einen riesigen Kessel, der den Nektar der Unsterblichkeit, den Amrita, enthält. Heute ist dieser Trank aufgrund der allgemeinen Gier und des Materialismus aus der Welt verschwunden. Während die Götter und Dämonen in wilden Schlachten aufeinander einhieben, stieß einer der etwas nachlässigen Himmels- oder Höllensoldaten aus Versehen den Kessel um, und vier Tropfen der kostbaren Flüssigkeit fielen auf die Erde. Erstaunlicherweise landeten diese vier Tropfen alle in Indien, einer davon in Hardwar. Die anderen Tropfen trafen Allahabad (Uttar Pradesh), Ujjain (Madhya Pradesh) und Nasik (Maharastra).

Aus diesem Grund findet das größte Fest der Welt, die Kumbh Mela, in einem 12jährigen Turnus alle drei Jahre abwechselnd an einem dieser vier Orte statt. Während der letzten Maha Kumbh, der größten der Kumbh Melas, in Allahabad im Jahr 2001 sollen mehr als siebzig Millionen Pilger anwesend gewesen sein, und am 24. Januar, dem Mauni Amavasya, dem Hauptbadetag also, sprangen zwanzig bis dreißig Millionen Menschen in die Fluten des Ganges, um die Seele zu reinigen. Hunderttausende Sadhus (Asketen), der Dalai Lama und ein paar Hippies tauchten ein in den heiligen Fluss. Madonna hatte man gebeten, dem Spektakel fernzubleiben. Aber auch zur Kumbh Mela in Hardwar versammeln sich Millionen Menschen.

In den Jahren zwischen den Melas geht es in Hardwar ebenfalls hoch her. Allabendlich findet auf dem Har-Ki-Pairi Ghat die Ganga Aarti statt – eine Zeremonie, die den heiligen Fluss ehren soll. Har-Ki-Pairi bedeutet soviel wie die „Fußspuren Gottes“, denn Vishnu hat hier einen Fußabdruck hinterlassen; zudem sind hier der Tropfen Amrita zur Erde gefallen. Um die Sache noch etwas verwirrender zu machen, heißt die Gegend um den Ghat auch Brahmakund, so dass die drei hinduistischen Hauptgottheiten – Brahma, Vishnu und Shiva – hier alle verehrt werden können. Zur Ganga Aarti versammeln sich mindestens 20 000 Menschen.

Der Ghat, breite Stufen, die bis an den Wasserrand hinabführen, ist von riesigen Scheinwerfern theatralisch angeleuchtet. Die Pilger überqueren dicht zusammengedrängt die Brücken, die sich vor und hinter dem Ghat über das schäumende Wasser des Ganges-Kanals wölben. Manch einer springt in die wilden, fast sauberen Fluten, die vom Regen in Gangotri, weit oben im Garhwal Himalaya, wo die Gangesquelle liegt, angeschwollen sind, und versucht, sich an den zahlreichen Ketten, die in den untersten Stufen verankert sind, festzuhalten. Andere kaufen mit Ringelblumen und einer flackernden Ghi-Kerze gefüllte Körbe aus großen Blättern, die während der Zeremonie sanft ins Wasser gesetzt werden und ihre Reise in die Gangesebene in Richtung Kanpur, Allahabad und Benares beginnen.

Hunderte von Messingglocken klingen über den Fluss und Bhajans, hinduistische Gebetsgesänge, schallen aus riesigen Lautsprechern, die an den Flutlichtpfeilern des Ghats angebracht sind. Kleine Schreine und Tempel sind mit Ringelblumen-Girlanden behangen, und der starke Geruch von Weihrauch füllt die warme Luft. Die Atmosphäre ist heiter und schlicht; geprägt durch Reinheit des Denkens, durch die Freude und den festen Glaube tausender Pilger, ohne Hintergedanken oder Fanatismus.

Die Stimmung ist so überwältigend, so angefüllt mit Hingabe und Gebet, dass Aroon und ich an verschiedenen Stellen des Ghats versuchen, etwas davon mit der Kamera einzufangen. Ich stelle deshalb meine Tasche ab, schaue durch den Sucher, drücke auf den Auslöser und bemerke gleichzeitig, dass die Tasche weg ist – von Göttern, Dämonen fortgezaubert oder, was mir am wahrscheinlichsten scheint, von einem hageren, großen Mann mit einem Bleistift dünnen Schnurrbart und einem kleinen, vielleicht zehnjährigen Jungen geklaut. Die zwei hatten sich langsam an uns herangepirscht und auf den richtigen Moment gewartet. Dann verschwanden sie blitzschnell mitsamt der Tasche in der ekstatischen Menge.

Aroon beobachtet das Geschehen zwar aus einer Distanz von ein paar Metern, aber als sie mich erreicht, ist es schon zu spät. Ich sprinte hinterher und verfolge die Diebe, Shivas Rache im Herzen, aber mein Versuch, die Flüchtigen im Chaos des Ghats zu verfolgen, führt zu nichts. Die Tasche ist im bunten, wirbelnden Indien bereits untergegangen, mitsamt einigen unserer wertvollsten Besitztümer.

Die diensthabende Polizei hat den gesamten Vorfall genau mitbekommen, und als ich schließlich schwitzend zum Tatort zurückkehre, versuchen zwei junge Beamte in frisch gebügelten Uniformen, ihre Lathis fest im Griff, herauszufinden, was sie denn da gerade gesehen, aber nicht verhindert haben. Während ich noch immer den Blick über den Ghat schweifen lasse und überall hagere Männer mit Bleistift dünnen Schnurrbärten und kleine Jungen sehe, kommen die zwei Polizisten zu einer professionellen Entscheidung – ich habe ihren Boss zu sehen.

Da sich unsere Schuhe in der abhanden gekommenen Tasche befinden, laufen wir barfuss über die noch immer heißen Steine oberhalb des Ghats zur nächsten Polizeistation, wo uns Hauptkommissar Joshi willkommen heißt. Hauptkommissar Joshi ist der höchstrangige diensthabende Offizier am Har-Ki-Pairi-Ghat, ein vierzigjähriger Zwei-Sterne-Kommissar mit einem Drei-Sterne-Schnurrbart und einer sehr, sehr leisen Stimme. Mr. Joshi führt uns zunächst zurück zum Tatort.

„Wir müssen die Sachlage untersuchen, vielleicht sind die Kriminellen ja noch in der Gegend,“ flüstert der Mann.

Wir überqueren ein zweites Mal die von Menschen, Rikschas und Autos verstopfte Straße, die hinter dem Ghat entlang führt, und als wir am Ort des Verbrechens ankommen, muss ich den Sachverhalt Mr. Joshi im Detail noch einmal darlegen. Mr. Joshi befiehlt daraufhin einigen seiner Untergebenen, über den gesamten Ghat auszuschwärmen und die Schuldigen, falls möglich, zu verhaften. Dann führt er uns zu seinem Polizeiposten zurück. Wir sitzen zunächst alleine in einem heißen, luftlosen und winzigen Zimmer, das außer ein paar Stühlen und vier Fernsehern leer ist. Keiner der Fernseher funktioniert.

Nach einer langen Weile ist Mr. Joshi wieder da und erklärt mir, dass ich einen Diebstahlreport auszufüllen habe. Ich ziehe einen Kugelschreiber aus der Hosentasche und schreibe auf, was passiert ist und was in unserer Tasche war: Eine Taschenlampe, zwei Messer, ein MD Player und ein Mikrofon, eine billige Kamera, eine Flasche Bisleri Wasser, ein Paar Sandalen und ein Paar Schuhe. Mr. Joshi verschwindet wieder.

Die jungen Polizisten kehren mit dunklen Mienen von ihrer Mission zurück. Zu Helden des Tages sind sie nicht geworden. Es ist ihnen nicht gelungen, in einer Menge von Tausenden zwei Diebe zu fangen, die sie noch nie gesehen haben. Ich vollende meinen Rapport und unterschreibe. Wieder vergehen zehn Minuten – nichts geschieht. Draußen geht die Ganga Aarti ihrem Ende entgegen. Das Einzige, was sich in unserer kleinen Zelle bewegt, ist der Deckenventilator, der sich wie ein geistesgestörter Straßenhund um sich selbst dreht.

Nach einer Weile kommt Mr. Joshi wieder und führt uns auf die Straße.

„Wo sind denn Ihre Schuhe?“ fragt er mich sehr leise und etwas irritiert.

Vielleicht hält er uns für Hippies, die einzigen Menschen, die in Indien barfuss herumlaufen, obwohl sie sich Schuhwerk leisten können. Ich erkläre, dass unsere Schuhe in meiner Tasche sind.

„Oh,“ ist alles, was er dazu zu sagen hat.

Mr. Joshi hat den permanent melancholischen Gesichtsausdruck eines Mannes, der schon tausende von Niederlagen überlebt hat. Er hält eine Auto-Rikscha an und bittet uns einzusteigen.

„Wir müssen zum Hauptquartier. Sie müssen mitkommen,“ flüstert er hinter mir.

Inzwischen ist über dem Ghat die Nacht eingebrochen. Mit der Hupe auf Vollgas rasen wir mit zwanzig Stundenkilometern durch die dichte Menge Pilger, die auf dem Weg nach Hause oder in die nächste Dharamshala sind. Der Strom ist ausgefallen, und die Stadt ist in völliger Dunkelheit versunken. Der Fahrer fährt ohne Licht – dies ist eine uralte indische Tradition, dem Mythos verhaftet, dass dies die Autobatterie schont. Die halbverschlafenen Kühe hören das Knattern des Motors rechtzeitig und schwanken aus dem Weg. Von Haschisch betäubte Sadhus retten sich an den Straßenrand, und die Verkehrspolizisten salutieren vor dem rauchenden, donnernden Gefährt, in dem wir durch Hardwar rauschen.

Die Situation ist fast komisch. Bis wir in Hardwars größter Polizeistation ankommen.

Wir treten durch das Haupttor in einen großen Hof ein. Polizisten, die gerade nichts zu tun haben, schnarchen in alten Hängematten. Die meisten Büros sind geschlossen. Am anderen Ende des Hofes scheint sich in einem Raum etwas zu tun. Hier sitzen drei Vertreter der Staatsgewalt hinter gigantischen, ledergebundenen Folianten, die so aussehen, als ob die Briten sie hinterlassen hätten. Einer der Polizisten tut Dienst am einzigen Telefon im Zimmer. Ein paar Polizistinnen sitzen im Halbdunkel. Computer sind keine zu sehen. Diese unwahrscheinliche Szene wird von nur drei Kerzen erleuchtet und wirkt fast so unwirklich wie die Ganga Aarti.

Wir sind im Büro für die Aufnahme von Verbrechen gelandet. Hauptkommissar Joshi verschwindet in der Nacht. Ein Dreisterneoffizier behandelt nun unseren Fall, nimmt noch einmal meine Erklärung des Sachverhalts auf und befiehlt mir, alles nochmals aufzuschreiben. Es ist unerträglich heiß in dem kleinen luftlosen Raum. Hier kann ich dem Deckenventilator nicht zuschauen, denn der sieht aus, als ob er bereits vor Jahrzehnten den Geist aufgegeben hat. Außerdem gibt es ja keinen Strom. Ich erkläre dem Beamten, dass ich einen wichtigen Polizeiinspektor in Hardwar kenne. Das ist dem Mann völlig egal.

Ich schreibe also noch einen Bericht über einen dürren Mann mit Bleistift dünnen Schnurrbart. Meine Beschreibung passt an einem normalen Abend in Hardwar auf etwa 50000 Männer. Der Dreisterneoffizier hat es trotz der Hitze eilig. Er plustert sich auf und fährt die anderen Beamten, die alle einen niedrigeren Rang als er selbst haben, launisch an. Dann verlässt er, ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen, den Raum. Hauptkommissar Joshi ist allerdings zurück und studiert mein neues Dokument sorgfältig. Schließlich folgt er seinem Kollegen wortlos in den Hof, wo es zehn Grad kühler ist als im Büro. Wir laufen ihm hinterher.

In der Dunkelheit murmelt mir der Dreisterneoffizier zu: „Hauptkommissar Joshi wird Sie jetzt zu ihrem Hotel begleiten. Wir werden eine Untersuchung einleiten.“

Das klingt in meinen Ohren sehr gewichtig. Man wird ein weites Netz werfen und die Bösewichte in kurzer Zeit verhaften. Ich fühle mich besser. Inzwischen scheint mir der Hauptkommissar fast wie ein Freund oder zumindest wie jemand, der den Opfern des Verbrechens vielleicht falsche, aber ermutigende Hoffnungen macht, dass die Tasche auffindbar ist. Wir folgen Mr. Joshi auf die Straße, die noch immer von herumschlendernden Pilgern verstopft ist.

Mr. Joshi hält eine zweite Auto-Rikscha an, wir klettern an Bord, aber schon nach hundert Metern befiehlt er dem Fahrer anzuhalten und flüstert: „Saft.“

Ich lehne mich aus dem Fahrzeug; um zu sehen, was Hauptkommissar Joshi meint, als er mir auch schon ein Glas reicht. Und kurz darauf ein zweites. Mr. Joshi hat die Rikscha am Stand eines Fruchtsaftverkäufers angehalten und uns auf zwei Gläser frischen Orangensaft eingeladen. Es ist halb zehn, und wir sind jetzt schon seit Stunden in den Händen der Polizei Hardwars. Der frische, kalte Saft ist köstlich. Eine halbe Stunde später stellen wir Mr. Joshi unserem Hotelbesitzer vor und verschwinden ins nächste Restaurant.

Am nächsten Morgen fragt mich mein Freund Rajiv nach einer Kopie des F.I.R.s, des sogenannten First Incident Reports, den man uns hätte aushändigen sollen. Aber wir haben natürlich am Vorabend nichts dergleichen erhalten. Das bedeutet, so Rajiv, dass auch keine polizeiliche Untersuchung stattfinden wird. Rajiv, ein geborener Optimist, rät mir deshalb, dieses Dokument erstellen zu lassen. Wir nehmen eine Rikscha zurück zur Polizeistation und marschieren entschlossen durch das Tor in den Hof, der jetzt in der Morgensonne liegt. Hier hängen noch immer Polizisten, die gerade Pause haben, in ihren Hängematten und dösen vor sich hin. In dem Raum, in dem wir am Vorabend saßen, sind immer noch die gleichen Beamten beschäftigt. Die meisten anderen Büros sind noch immer geschlossen. Einer der Diensthabenden rafft sich schließlich auf, uns zu erklären, dass wir den F.I.R. nur an dem Polizeiposten erhalten werden, wo wir den Diebstahl zuerst gemeldet haben.

Im kleinen Polizeirevier am Har-Ki-Pairi Ghat freut sich Hauptkommissar Joshi, uns zu sehen. Er erzählt mir, mit dem nun schon vertrauten melancholischen Blick im Gesicht, dass er seine Männer schon im Morgengrauen auf die Suche nach unserer Tasche geschickt hätte. Als ich das delikate Thema F.I.R. erwähne, zeigt sich ein Hauch von Angst auf Mr. Joshis sonst so unveränderlichem Gesichtsausdruck, der sich nach ein paar Sekunden in mildes Unbehagen verwandelt und schließlich wieder zu der ihm eigenen Melancholie wird.

„Wirklich?“

Er führt uns in das leere Zimmer mit den vier Fernsehgeräten, bittet uns auf die beiden Stühle und verlässt den Raum. Heute gibt es Strom, aber die Fernseher funktionieren trotzdem nicht. Ich beobachte eine Weile den Deckenventilator. Nach zehn Minuten bringt uns ein junger Beamter in einer frisch gebügelten Uniform zwei Gläser warme, flaue Cola. Mr. Joshi bittet mich in das Büro mit dem einzigen Telefon im Gebäude. Dort wartet ein Anruf auf mich.

Mr. Pratap ist Mr. Joshis Vorgesetzter.

„Es tut mir sehr leid, von diesem unglücklichen Zwischenfall zu hören. Ich bin heute leider im Krankenhaus, um meine Augen behandeln zu lassen und bin somit nicht im Dienst, sonst würde ich mich sofort persönlich um Ihren sehr ernsten Fall kümmern. Ich kann im Moment auch nicht absehen, wann ich wieder im Büro sein werde. Vielleicht wird das noch ein paar Tage dauern.“

Ich versichere Mr. Pratap, dass uns das nichts ausmacht und dass ich lediglich eine Kopie des F.I.R.s will. Völlige Stille am andern Ende der Leitung. Nach einer Weile erklärt mir Mr. Pratap den Sachverhalt: „Sehen Sie, ich glaube nicht, dass das unbedingt nötig ist. Eigentlich hat es nur einen Sinn, einen F.I.R. auszustellen, wenn der Dieb verhaftet ist. Sonst wird die Zeit, die wir investieren müssen, um den F.I.R. auszustellen, die Untersuchung verlangsamen, wenn nicht gar aufhalten.“

Ich teile Mr. Prataps pragmatische Sichtweise, aber bemerke, dass ich mich mit meiner Botschaft in Verbindung setzen müsse, falls ich keinen F.I.R. erhielte. Mr. Pratap, der auf einmal irritiert klingt, bittet mich, das Telefon an Mr. Joshi weiterzureichen. Mr. Joshi beantwortet prompt mehrere Fragen. Sein Gesichtsausdruck bleibt unergründlich. Nach einer Weile reicht er mir den Hörer zurück.

„Mr. Vater, Hauptkommissar Joshi wird Ihnen den F.I.R. ausstellen. Bitte ändern Sie doch Ihre Aussage, dass die Tasche gestohlen wurde, dahingehend, dass Sie dieselbe auf dem Ghat in der Menge verloren haben. Das würde uns viel Zeit ersparen.“

Wieder ist Mr. Prataps fixem Gedankengang kaum zu widersprechen, aber ich versichere ihm, dass meine Frau den Diebstahl beobachtet hat und ein Verlust der Tasche auf keinen Fall den Tatsachen entspräche. Mr. Pratap bittet mich ein zweites Mal, das Telefon an Mr. Joshi weiterzureichen. Mr. Joshi beendet das Gespräch und führt uns in das leere Zimmer mit den vier Fernsehern zurück. Nach einer weiteren meditativen Viertelstunde werde ich wieder in das Zimmer mit dem Telefon zurückgebeten.

Ein übergewichtiger Polizist sitzt neben Mr. Joshi und ist dabei, den F.I.R. auszufüllen. Das sieht alles sehr professionell aus, aber der voluminöse Mann will nicht, dass ich ihm auf die Finger schaue und verwehrt mir durch ständige und wahrscheinlich anstrengende Verrenkungen die Sicht auf das Formular. Ich sehe nur seinen runden Rücken. Der F.I.R. ist auf Hindi. Diverse Durchschläge werden angefertigt. Dann dreht der Polizist alle Blätter um, und Mr. Joshi diktiert meine erste Aussage auf Englisch. Die englische Version wird – von Hand – auf die Rückseite des F.I.R. und alle darunter liegenden Dokumente geschrieben.

Der wohlbeleibte Beamte fängt an zu schwitzen und arrangiert seine Blätter immer wieder aufs Neue. Der Prozess dauert länger als eine Herzoperation, solange, dass ich Zeit und Muße finde, das Bemühen zweier Fliegen, an der schmutzigen Wand neben mir zu kopulieren, zu verfolgen. Irgendwann bricht der Strom zusammen, und ein Schwarm Moskitos greift die Polizeistation an. Genau wie der Deckenventilator kommt auch der Beamte ins Stocken und wischt sich die schweißnasse Stirn mit einem klatschnassen Handtuch. Hauptkommissar Joshi, auf seine passive Art ein unerschütterlicher Mensch, macht seinem Untergebenen Dampf und liest und buchstabiert jedes Wort meiner Aussage. Glücklicherweise ist diese recht knapp gehalten.

Nach einer Ewigkeit hat der übergewichtige Polizist alle Formulare ausgefüllt, springt nervös auf, zieht einen großen Stempel aus einer Schublade, knallt diesen auf meinen F.I.R., reicht mir das Dokument und salutiert, mit einer einzigen Bewegung, völlig außer Atem. Ich bin mit Dankbarkeit und einem Gefühl der Erlösung erfüllt, wofür genau, das weiß ich nicht mehr. Mr. Joshi tritt mit uns aus seiner Polizeistation.

„Kommen Sie heute Abend zur Ganga Aarti?“

Ich sage ihm, dass ich mir dessen noch nicht sicher bin. Mr. Joshis Schnurrbart vibriert ein bisschen und fast lächelt der Mann.

„Viel Glück,“ flüstert er, während sein Gesicht wieder den ihm so eigenen Ausdruck annimmt.

Falls unser Hotel Strom hat, werde ich heute Abend den Deckenventilator beobachten, in dem beruhigenden Gefühl, dass die Polizeibeamten Hardwars gewissenhaft unseren Fall untersuchen, den Dieben näher kommen und nur darauf warten, den richtigen Moment für eine Verhaftung zu erwischen.

Bilder aus In Heiligen Höhen von Aroon Thaewchatturat

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